Leuchtender Schatten
In den eigenen Schatten abzusteigen ist anfangs lediglich unangenehm, die Ergebnisse sind beileibe nicht erfreulich, aber es hat einen großen Vorteil: umso mehr man die eigene Boshaftigkeit kennt, desto besser kann man sich vor der Boshaftigkeit anderer schützen. Das Böse in uns erkennt das Böse im anderen…der naive Idealist, der sich von allen vorführen lässt wird nicht durch Mitleid geheilt sondern dadurch dass er zu seinem inneren Schatten geführt wird.
Marie-Louise von Franz, das Weibliche im Märchen, 1979
Das Gute und das Böse, das Licht und der Schatten. Das was richtig und das was falsch ist. Wie soll man diese Werte definieren? Welchen Koordinaten soll man folgen? Welchen Kodex ansetzen? Es scheint unmöglich eine Formel zu finden, zu gewagt ist auch nur der Versuch, es gibt unendlich viele Erzählungen die verschmelzen in den Kulturen und Geschichten dieser Welt.
Mit gewohnten Ideen und Konzepten würde man unweigerlich in unlösbare Konflikte und unvermeidliche Teilungen geraten. Man könnte stattdessen die Vorstellungskraft einsetzen. Ich erwache im Morgengrauen in einem Apartment im letzen Stockwerk eines Wolkenkratzers. Ich könnte in einer der vielen Metropolen des Planeten Erde sein, vielleicht in London. Ich öffne die Vorhänge des großen Fensters, es kommt das allererste Morgenlicht herein das sich über die Stadt legt, hell und dunkel vermischen sich, wir sind an dem Übergang von Nacht zum Tag, es ist eine Frage von Schattierungen und von Standpunkten. Ich trinke ein Schluck Wasser und aktiviere meinen Blick, ein Blick ohne Urteil, so neutral wie möglich. Ich sehe die Themse, den Big Ben, Westminster, Hyde Park, Häuser, Wolkenkratzer, Plätze, Straßen, Autos, Autobusse und Straßenlaternen. Von hier oben habe ich Schwierigkeiten die Menschen zu erkennen, aber ich habe meine Vorstellungskraft. Was kann in dieser abgrundtiefen dunklen Nacht geschehen sein? Welche Wahrhaftigkeit, welches Mysterium? Alles und das Gegenteil von allem. Liebe, Sex, Gewalt, Schmerz, Freude, Leidenschaft, Angst, Tanz, Gesang, Stille, Alkohol, Drogen, Tote, Geburt, Krankheit, Heilung, Enttäuschung, Verzweiflung, Freude, krumme Geschäfte, Gebet, Unfall, Begegnung, Verlust, Gnade, Begierde, Panik, Traum, Albtraum und Magie. All diese Dinge, diese Tatsachen, Situationen, Erfahrungen, und Vorfälle sind gleichzeitig passiert, vielleicht nicht im selben Moment aber mit Sicherheit in einem relativ kurzem Abstand. Das könnte vielleicht bedeuten dass die Trennungslinie zwischen gut und böse sehr dünn ist, extrem dünn, fast unsichtbar, zur Auflösung neigend. Das was gut ist vermischt sich mit dem Bösen, richtig und falsch sind austauschbar. Ein vergleichbarer Gedankengang kann vor allem dann wahr sein wenn wir in unser Inneres blicken und dabei nicht urteilen, ohne uns irgendetwas zu sagen. Man kann also sein Inneres und seine Seele mit einem großem Stadttheater mit Nachtvorführung vergleichen, wo die Emotionen und Situationen sich abwechseln. Manchmal leben die verschiedenen Charakteren die unsere Psyche bewohnen friedlich miteinander, manchmal aber bekriegen sie sich unerbittlich und können zu inneren Konflikten führen die unsere Seele zerreißen und zerstören kann.
An dieser Stelle würde ich einen Moment innehalten. Ich frage mich ob ein Konflikt oder Zusammenstoß nicht gerade deshalb entsteht weil wir ein vorgefertigtes Bild von Gut und Böse haben, vor allem in geistiger Hinsicht. Wenn auf unserer inneren Bühne die Trauer auftaucht sehen wir sie sofort als hässlich und falsch, wir versuchen sie zu vertreiben anstatt sie anzunehmen und setzen ihr sofort eine logische und rationale Fröhlichkeit entgegen und so, entsteht ein Konflikt. Das Gleiche gilt für Wut, Abstoss, Angst, Eifersucht, Intoleranz, Neid, Hass und so weiter. Verschiedene Gemütszustände werden als häßlich, schmutzig und Böse erachtet. Es wäre wahrscheinlich zielführender zu versuchen das eigene Urteil auszusetzen und somit allen Emotionen ein Aufenthaltsrecht zu geben, zuzulassen dass sie sich in unserer Seele frei bewegen können.
So wie in der äußeren Stadt angenehme und unangenehme Dinge passieren, so geschieht das auch in der inneren Stadt. Diese energetische Dynamik, diese multi-Polarität der Seele zu verstehen, bedeutet weniger konformistisch und moralistisch zu werden. Weniger moralistisch deshalb weil wenn wir darauf verzichten uns selbst zu verurteilen werden wir unweigerlich weniger streng mit den anderen. Was hingegen den Konformismus angeht werden wir vermeiden homolog und einseitig zu denken, unsere Einstellungen und Sichtweisen der Welt werden weniger endgültig und autoritär, sondern subtil und leicht. Das Leben, das Innere wie das äußere, fließt einfach und in diesem Fluss wechseln sich Licht und Schatten ab. Es ist wichtig beide anzunehmen, ohne künstliche und vorgefertigte Werte. Man muss es zur Kenntnis nehmen und jedes Mal von neuem entscheiden was zu tun ist, ohne auf statische und endgültige Ideale zurückzugreifen, und wenn man es so handhabt kann man auch auf die endgültige Wahrheit stoßen die, wie Krishnamurti sagt, immer die Freiheit vom Bewußten ist.
Andrea Grotteschi